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Rundbrief Januar 2010

Das Leben - ein gordischer Knoten

Margarethe Randow-Tesch

Als der griechische Feldherr Alexander der Sage nach mit dem berühmten gordischen Knoten konfrontiert wurde – einem so komplexen und verschlungenen Gebilde, dass es den klügsten Köpfen seiner Epoche nicht gelungen war, ihn zu entwirren –, hatte er einen brillanten Einfall und erfüllte so den Orakelspruch, dass derjenige, dem es gelänge, das Rätsel zu lösen, Herrscher über Asien werden würde. Statt seine Energie auf die Entwirrung des komplizierten Knotens zu verschwenden, durchschlug er ihn einfach mit einem Schwerthieb. Er hatte blitzartig den Zweck hinter der Form erfasst: Der komplizierte Knoten war bloß ein Trick und sollte ihn dazu verleiten, die Lösung auf einer Ebene zu suchen, wo sie nicht lag.

Die Geschichte lässt an viele Aussagen im Kurs denken, beispielsweise: »Suche, aber finde nicht, bleibt der strenge Erlass dieser Welt« (H-13.5:8); oder: »…die Wahrheit [ist] einfach. Komplexität ist vom Ego und nichts anderes als der Versuch des Ego, das Offensichtliche zu verschleiern« (T-15.IV.6:1-2).

Die Welt und unser psychophysisches Leben ähneln in ihrer ungeheuren Komplexität dem gordischen Knoten. Individuell und kollektiv suchen wir nach Lösungen für die komplizierten Probleme, die unser Körper, unsere Psyche, unsere Beziehungen und all die Verflechtungen in der Welt aufwerfen. Wir wollen Leid und Gefahr abwenden und Glück bewirken. Doch regelmäßig wartet über kurz oder lang die nächste Schlinge. Im Kurs heißt es: »Niemand könnte all die Probleme lösen, die die Welt scheinbar in sich birgt. Sie scheinen … in so unterschiedlicher Form und mit derart mannigfaltigen Inhalten [aufzutreten], dass … Verzweiflung und Depression … unausweichlich [sind]« (Ü-I.79.5:1). Allen äußeren Lösungen ist unter anderem dies gemeinsam: Sie sind nicht haltbar, sie werfen grundsätzlich neue Probleme auf, sie kommen nie allen zugute oder sind nicht für alle gut. Damit sind neuer Konflikt und Schuld vorprogrammiert.

Und dennoch wird uns im Kurs versichert, dass es der Zweck unseres Daseins hier ist zu lernen, vollkommen ruhig zu sein. Wahre Ruhe ist allerdings keine Frage der Zeit. Sie entsteht nicht durch das Anpacken äußerer Probleme, auch wenn wir uns dem »als Gefangene dieser Welt« selbstverständlich nicht entziehen können, sondern indem wir der Macht der Entscheidung gewahr werden: »Die Macht der Entscheidung ist die einzige dir verbleibende Freiheit als Gefangener dieser Welt. Du kannst dich entscheiden, sie richtig zu sehen« (T-12.VII.9:1-2). Die Welt richtig sehen heißt, jede Situation als Projektion begreifen. Dazu müssen wir hinter die komplexe Erscheinung des Problems zur Einfachheit des Inhalts blicken. In Lektion 64 heißt es dazu: »Der Zweck der Welt, die du siehst, ist, deine Funktion der Vergebung zu verschleiern und dir eine Rechtfertigung dafür zu liefern, sie zu vergessen … Komplexität der Form lässt nicht auf Komplexität des Inhalts schließen« (Ü-I.64.1:2 ;5:7). Jedes Problem verschleiert den simplen Umstand, dass wir permanent zwischen zwei Denksystemen wählen, die wir anschließend projizieren: der Falschgesinntheit des Ego, die auf Unterschieden, Schuld und Angriff gründet und Gewinner und Verlierer fordert, und der Rechtgesinntheit des Heiligen Geistes, in der wir uns als dasselbe wie andere – als gleichermaßen unschuldig, wenn auch im Irrtum der Schuld befangen – und daher als von niemandem getrennt betrachten. Hier braucht niemand seine Unschuld verlieren, damit wir sie gewinnen.

Welches Denken erscheint uns wertvoll und erstrebenswert? Es ist jenes, das wir wählen werden und das unsere Sicht der Dinge prägt. Deshalb heißt es im Kurs: »Komplexität ist nichts als eine Nebelwand, die die ganz einfache Tatsache verbirgt, dass keine Entscheidung schwierig sein kann« (Ü-I.133.12:3). Was sie dennoch schwierig erscheinen lässt, ist unsere unbewusste Angst, das Ego zu verlieren.

Kommen wir noch einmal auf Alexander zurück, der zwar den Trick des gordischen Knotens durchschaut hatte, aber diese Einsicht aus den eben genannten Gründen nicht auf sein Leben übertragen konnte. Irgendwann traf der ruhelose Eroberer auf den griechischen Philosophen Diogenes, der zurückgezogen in einer Tonne lebte. Er sagte zu Diogenes, er solle irgendeinen Wunsch äußern, und er, Alexander, wolle ihn erfüllen. Zu seiner Verblüffung lautete Diogenes‘ schlichter Wunsch: »Geh mir aus der Sonne.« Diogenes hatte zweifellos verstanden, was wertvoll und was wertlos war. Den Gedanken, irgendetwas im Äußeren könne ihn vervollständigen, hielt er offensichtlich für lachhaft.

Gewöhnlich sind wir nicht in der glücklichen Lage des Diogenes, der einen so unbestechlichen Blick für Wahrheit und Illusion bewies, dass er gar nicht erst in einen Konflikt geriet. Beide Gedankenwelten des gespaltenen Geistes erscheinen uns plausibel und anziehend: Egozentrik, Mangel und Angriff einerseits (was sich als Suche nach Vollständigkeit im Äußeren und als getrenntes Interesse äußert) und Selbstlosigkeit, Unschuld und Urteilslosigkeit anderseits (das gemeinsame Interesse der Vergebung).

Vorübergehend werden wir also mit unseren Entscheidungen experimentieren müssen, um aus den Folgen zu lernen. Deshalb sind Entscheidungen für das Denksystem des Ego, die wir oder andere treffen, kein Beinbruch, sondern Ausdruck von Unklarheit und Lernbedarf. Insofern sind sie unumgänglich und eine Chance, um zu lernen, noch einmal zu wählen. Die Voraussetzung aber, dass sie einem konstruktiven Lernprozess dienen, ist, dass wir uns sanft korrigieren lassen, wenn wir der Vergangenheit nachtrauern oder Konflikte und Lösungen äußeren Umständen zuweisen, sonst werden wir nur weiter im Labyrinth des gordischen Knotens umherirren und Zeit verlieren (die am Ende bedeutungslos ist). Stattdessen können wir die Zeit dazu verwenden, im Namen unserer eigenen Befreiung geduldig zu üben, den Knoten zu durchschlagen, indem wir die Verbindung zwischen unserem konflikthaften Erleben der Welt und unserer Entscheidung für die Falschgesinntheit jetzt erkennen, und geduldig mit dem Satz im Alltag üben: »Nichts außerhalb von dir kann dich furchtsam oder liebevoll machen, weil nichts außerhalb von dir ist« (T-10:Einl.1:1)

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